Romantik: Die Mythen

Romantik: Die Mythen
Romantik: Die Mythen
 
Kaum eine Epoche beschäftigte das Phänomen des Mythos so anhaltend wie die Romantik, wenngleich viele Wurzeln dieser Beschäftigung bis tief ins 18. Jahrhundert hinein zurückreichen. Seit Platon gibt es eine Kritik an den Mythen; in der christlichen Tradition war die theologische Verurteilung hinzugekommen. Die Aufklärung verwarf den Mythos als Priestertrug. Die Gegenbewegung zu dieser Art der rationalistischen Entlarvung bildet die Romantik, und die hier einsetzende Krise der aufklärerischen Vernunft reicht bis in die Gegenwart. Die Mythen erschienen nicht mehr als Ausgeburten einer üppigen Fantasie, sondern als Erzeugnis der einfachen, bildlich denkenden Urzeit. Die Mythen sind nichts anderes als verhüllte, sinnbildliche tiefe Weisheiten - eine neue Einsicht, die die Philosophie, vor allem Schelling, von den Mythologen übernahm. Diese Mythisierung der Poesie und Poetisierung des Mythos mündeten in den Jahrzehnten zwischen 1800 und 1840 in die Frage nach den Mythologien der Welt. Friedrich Schlegel etwa begrüßte Indien als Urheimat philosophischer Weisheit und Urreligion, die, von Priestern esoterisch behütet, Uneingeweihten nur symbolisch-mythisch mitgeteilt und so auch dem Westen überliefert worden seien, wo sie sich noch am reinsten in den Mysterien der Griechen erhalten haben. Johann Jakob Wagner, Johann Arnold Kanne, Johann Joseph von Görres suchten griechische Mythen auf indische Ursprünge zurückzuführen. Neben die romantische Indophilie als Medium der Selbstdistanzierung der europäischen Intelligenz vom Christentum traten die Entdeckung der »Edda«, also der altnordischen Mythologie, deren Erforschung Jacob Grimm forcierte, und schließlich die Hinwendung zum christlichen Mittelalter: Am Ende dieses Prozesses stand - mit dem Einschwenken in die eigene Christlichkeit - Resignation.
 
Charakteristisch für die Romantik ist ferner die Neubelebung der beiden bekanntesten antiken Erklärungsmethoden des Mythos, nämlich der Naturallegorese und des Euhemerismus. Der Euhemerismus - benannt nach dem antiken Philosophen Euhemeros von Messene - versucht positivistisch die Mythen als Niederschlag einer alten Geschichte und die Götter aus historischen Ereignissen und Personen zu erklären. Das ganze Mittelalter hat sich des Euhemerismus bedient. Im 19. Jahrhundert wurde erneut die allegorische Methode favorisiert. Die damals entstehende Wissenschaft von der Prähistorie bestätigte Zug um Zug die Sicht der Romantik, dass der griechisch-römische Mythos nicht das einzige Zeugnis frühzeitlichen Denkens und Dichtens sei. Johann Jakob Bachofen zog daraus die Konsequenz mit seiner These, alle Völker hätten ein »mythisches Zeitalter« durchschritten. All dies führte zur Begründung einer vergleichenden Mythologie. So behandelte etwa Friedrich Rückert in seinen Erlanger Vorlesungen der späten Zwanziger-Jahre orientalische (persische) und griechische Mythologie gleichgewichtig. Die Bezeichnung »Mythos« wurde auf die frühesten Überlieferungen alter Völker und die gegenwärtigen Überlieferungen als »primitiv« geltender Völker ausgedehnt. Dahinter stand der zum Beispiel von Bachofen postulierte Glauben, dass der Entwicklungsgang der Menschheit notwendig vom Mythos zur Rationalität führen müsse. Die historische Kritik in Form etwa der Begründung einer vergleichenden Mythologie führte aber letztlich dazu, dass der Selbstverständlichkeit des Mythologischen ein Ende bereitet wurde. Die Mythologen traten den Rang an die Philologen ab und bekamen an der Universität keinen Lehrstuhl, obschon die Mythologie Voraussetzung war für die Dichtung Homers wie für die antike Plastik und den Tempel.
 
Exemplarisch für diese Bewegung ist der Denkweg von Friedrich von Schlegel und Friedrich von Schelling. Am Anfang stehen bei beiden die Einbindung des Mythos in die ästhetische Erfahrung und die Proklamation einer neuen Mythologie; sie löst die Säkularisation des Rationalismus ab. »Neue Mythologie« bezeichnet - programmatisch zuerst vom jungen Hegel im »Systemprogramm« von 1797, dann von Schelling und Friedrich Schlegelvorgestellt - eine ästhetische Kategorie, in der nicht mehr von den Göttern die Rede ist, sondern von dem Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem; sie soll die Rückkehr aller Wissenschaften in den »Ozean der Poesie« leisten, als »Kunstwert der Natur« durch Poesie vermittelt werden und eine neue Totalität im Sinne der organischen Natur verbürgen. Wenn irgendeiner der Romantiker Ernst mit dem neuen Mythos gemacht hat, dann war es Philipp Otto Runge in seinem »Tageszeiten«-Zyklus. Die Forderung nach einer neuen Volksmythologie hat dann im 19. Jahrhundert vor allem bei Richard Wagner und Friedrich Nietzscheweiter gewirkt.
 
Für den späten Friedrich Schlegel gehörten die Mythen zur Überlieferung. Historische, allegorische oder psychologische Deutung allein komme den Mythen nicht bei; aufgrund der in ihnen enthaltenen »Spuren des wahren Begriffs der Gottheit« (im Sinne einer kindlichen, menschenangepassten Uroffenbarung) bedürften sie nicht zuletzt »philosophischer« Interpretation. Durch Görres auf die »Edda« aufmerksam gemacht, erblickte er in der nordischen Mythologie die reinste Offenbarung des ursprünglichen Sinnes. Die Natur erschien ihm in der »Edda« als Erscheinungsform eines göttlichen Grundwesens. Die nordische Mythologie setzte er weit über die griechische, die die göttlichen Wesen zu sehr verdinglicht habe. Diese - auch bei Georg Friedrich Creuzer beobachtbare - Rede von einer Urreligion und Urweisheit wurde von. Christian August Lobeck als »Mythologia originalis«, Originalmythologie, verächtlich gemacht. Creuzers Forschungen beruhten weitgehend auf der eben erschlossenen Literatur der alten Inder: Die Urmythologie wurde als Urphilosophie verstanden.
 
Zwischen den Anschauungen der Romantik und des 19. Jahrhunderts steht Karl Otfried Müller; sein Werk markiert den Beginn der kritischen Mythenforschung. In seinem Grundwerk der Mythenforschung, den 1825 erschienenen »Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie«, hatte Müller die romantischen Thesen von der Mythologie als Weisheitslehren oder Priestererfindungen verworfen; Mythen sind für ihn Erzeugnisse des Volkes selbst, sind der Versuch, Erfahrungen am Kosmos, an der Natur und an der Geschichte sinnfällig zu vergegenwärtigen. Mythen sind mithin Ausdruck einer Realität, wenn auch in einer besonderen Gestalt. Müllers Augenmerk galt vor allem dem Verhältnis von Geschichte und Mythos; im Zuge seiner umfassenden historischen Forschungen wurde ihm die Bindung der griechischen Mythen an Stämme, Landschaften und Orte bewusst. Seine 1820 bis 1824 erschienene »Geschichte hellenischer Stämme und Städte« wird heute als bösartiges antisemitisches Konstrukt verworfen, in dem sich rassistischer Reinheitsfanatismus, romantisch-christliche Aufklärungsfeindschaft und Fortschrittsglaube zu einem schwärmerisch-militanten Philhellenismus verschworen hätten; die Antike, wie wir sie kennen, sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, und ihr Geburtsort heiße Göttingen. Richtig ist in jedem Fall, dass die Göttinger Vorlesungen von Müller von großer Bedeutung für die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts wurden. So war etwa Bachofen Hörer von Müller und kannte seine Veröffentlichungen. Bachofens berühmter Satz »Der Mythos ist die Exegese des Symbols« beruhte auf Einsichten und Formulierungen von Creuzer und Müller.
 
Seine These, die Mythen stellten eine Form religiöser Geschichtsschreibung dar, suchte Bachofen in seinem 1861 erschienenen »Mutterrecht« zu belegen, das eines der berühmten Bücher des 19. Jahrhunderts darstellt und bis heute von anhaltender Bedeutung ist, wobei der Streit noch unentschieden ist, ob wir in Bachofen den Vollender der deutschen Romantik oder einen der Hauptvertreter des Evolutionismus sehen müssen. Bachofen verstand hier die mythische Tradition als Erinnerung an große geschichtliche Ereignisse, vor allem als Bericht über die Auseinandersetzung zwischen mutterrechtlichen und den späteren patriarchalen Lebensformen. Dass sein Buch prophetische Qualitäten hatte, wurde erst im 20. Jahrhundert, und hier vor allem von der Frauenbewegung, entdeckt.
 
Prof. Dr. Christoph Jamme

Universal-Lexikon. 2012.

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